Eigene Wege entstehen beim Gehen

Meine erste Erinnerung an Mobilität stammt aus der Zeit als ich den Kindergarten besuchte. Ich glaube da war ich vier oder fünf Jahre alt. Der Kindergarten war etwa 700 Meter von unserem Haus entfernt. Es gab einen kurzen und einen lângeren Weg zum Kindergarten. Der kurze Weg war effektiv. Erst rechts aus dem Haus, 50 Meter bis ans Ende der Sackgasse, dann links an einer Wiese vorbei, so etwa 300 Meter. Dann kam das Haus des Bùrgermeisters und dahinter ein anderes großes Haus das später mal ein Jugendzentrum wurde, zu dieser Zeit aber unbewohnt war. Zwischen dem Bürgermeister Haus und dem zukünftigen Jugendzentrum ging es 200 Meter in einer Mischung aus Weg und Treppe bergab, dann kam der Eingang zum Kindergarten. 

Wegen derTreppen war es nicht möglich, ein Fahrrad zu benutzen.  Es war aber der kürzeste Weg, wenn man zu Fuß ging. Auf diesen Weg passierte nichts Neues, der war eher langweilig.

Es gab mehrere andere Varianten. Wenn ich vor dem Bürgermeisterhaus rechts abgebogen bin, war keine Treppe aber eine recht steile Straße. Am Ende der Straße war “der Neubau “ ein neues Mehrfamilienhaus mit drei Etagen, daneben ein paar ältere „Wohnblöcke“ und ein Wendeplatz fur Autos. Auf diesem Wendeplatz ließen die Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zum Kindergarten brachten, ihre Kinder aussteigen. Ich habe mir immer überlegt wie aufregend es sein muss, morgens mit einem Auto zum Kindergarten gebracht zu werden.

Einmal in der Woche wurden die Mülleimer zum Abholen rausgestellt und manchmal kam der Müllwagen genau zu der Zeit wenn ich zum Kindergarten ging.

Dieser Weg war viel interessanter als die Treppen. Ich habe immer die Müllmänner bewundert, die auf dem Müllwagen hinten drauf standen. Ich hatte auch gleichzeitig Angst und Respekt vor dem großen und lauten Müllwagen. Damals waren das noch schwere Blechtonnen mit Asche drin und es staubte und schepperte.

Meine erste Schule war etwas weiter als der Kindergarten von zuhause entfernt und es gab wieder mehrere Wege. Neu kam hinzu dass es Fahrschüler gab die mit großen Schulbussen eingesammelt wurden. Die Dörfer aus denen diese Kinder kamen waren zwar nur ein paar Kilometer entfernt aber ich fand das damals sehr exotisch und für mich unerreichbar. Ich wollte auch Fahrschùler sein und fand es total doof so nahe an der Schule zu wohnen. Es gab noch zwei andere Wege zur Schule und ich stand jeden Tag vor der Frage, ob ich diesen oder jenen Weg benutze. Da meine Mutter arbeitete und mir essen hinstellte war es egal wann ich nach Hause kam. Manchmal bin ich auf der Hälfte des Weges umgekehrt und habe dann doch den anderen Weg genommen.

Als ich 10 Jahre alt war, habe ich die Schule gewechselt und musste dann 20km in die nächste Stadt mit der Eisenbahn fahren und nachmittags wieder zurück. Es gab unglaublich viele Varianten dieses Schulweges und ich fand meistens den Weg zur Schule und wieder nach Hause viel interessanter als die Schule selbst. Endlich war ich ich Fahrschüler. Es war mühselig und ich bin morgens (5:30) schwer aus dem Bett gekommen aber fand den Weg immer interessant- immer ! Ich habe alles beobachtet und versucht herauszufinden wie diese Welt funktioniert.

Mit 15 hatte ich dann mein erstes Mofa – das fuhr mit etwas Tuning so um die 50 km/h und es dauerte 30-40 Minuten bis ich bei der Schule ankam. Ich bin viel lieber mit dem Mofa als mit der Bahn gefahren. Die Bahn fuhr nur alle zwei Stunden, mein Mofa immer. Und im Sommer konnte ich meine Badesachen in den Packtaschen lassen und nach der Schule gleich zum Baden fahren. Klar war es kalt im Winter und ich konnte auf Parties nicht viel trinken aber mein Aktionsradius vergrößerte sich doch erheblich. Ich kannte buchstäblich jeden Weg und bin gern rumgefahren und habe zugesehen wie auf den Feldern gesäht und geerntet wurde. Zweimal im Jahr gab es große NATO Manöver in unserer Gegend. Da ich Geld fürs Benzin auftreiben musste, brachte ich den Soldaten immer Bier von der Tanke und verdiente ganz gut damit.

Ich bin ein Einzelkind, hatte kaum Freunde im Dorf ( weil ich auf einer anderen Schule war) und kaum Freunde in der Stadt wo die Schule war (weil ich zuweit weg wohnte). Gefühlt verbrachte ich die meiste oder zumindest einen sehr großen Teil meiner Zeit auf dem Mofa. Zu dieser Zeit gab es viele Treffpunkte an denen Jugendliche standen und gemeinsam gesessen und erzählt haben . Es war auch die Zeit der Dorfdiscotheken und irgendwie war immer etwas los auf einem Dorf. Das hatte vermutlich auch damit zu tun dass ich zu den „geburtenstarken Jahrgängen“ gehöre und somit immer viele Leute in meinem Alter um mich herum waren.

Während meiner Mofazeit gab es zwei Gruppen von Leuten die ich interessant fand. Die einen fuhren neue, getunte Autos oder aufgemotzte neue Motorräder und die anderen waren Mitglieder in Rockergruppen, trugen Kutten und fuhren alte Harley Davidson Motorräder, die sie selbst umgebaut hatten. Die Rocker fand ich cool, weil die vor nix Angst hatten und sehr souverän rüberkamen. Die Leute mit den getunten Autos und Rennmotorrädern fand ich eher langweilig und unsicher aber deren Fahrzeuge waren teilweise echt cool (Renault Alpine, Ford Capri, Opel GT, Ducati, Moto Guzzi, Bimota, Kawasaki). Opel Manta waren noch nicht so richtig verbreitet in unserer Gegend. Eine Gruppe Menschen für sich waren die Bandaffen. Sie arbeiteten bei Volkswagen am Fließband, verdienten richtig viel Geld und fuhren jedes Jahr die neuesten Volkswagen in fetter Ausstattung (Golf GTI). Diese Sorte war bei den Mädchen im Dorf sehr beliebt.

Einen öffentlichen Nahverkehr gab es praktisch nicht. In den Bussen wurde mir schlecht, die Bahnverbindungen wurden nach und nach immer weniger.

Als ich dann endlich 18 wurde bekam ich diesem Tag auch den Auto- und Motorrad Führerschein ausgehändigt. Ich hatte mit 17 die Fahrschule gemacht und fuhr dann ein kleines Motorrad (Honda XL 185) und ein Auto (Citroën 2CV). Mit der Wahl des Autos betrat ich eine Nische und wurde meistens ausgelacht. Aber ich bemalte den 2CV und das Motorrad und fand es klasse.

Zu meiner Überraschung kam die Kombination kleines Motorrad und „viertüriges Cabrio“ auch gut in der Damenwelt an.

Das Schöne, Kreative, Neue, Aufregende und Inspirierende war verbunden mit dieser Art von Mobilität, dem Ausprobieren verschiedener Wege, dem Beobachten und Trödeln.

Bis heute wohne ich auf Dörfern, habe immer ein eher „individuelles“ Auto und empfinde die Möglichkeit jederzeit dorthin zu fahren wo ich will als eine große Art von Freiheit und Chance für mich. Ich vermeide Autobahnen und fahre lieber den langsamen und längeren Weg. Ich wollte immer mindestens so viel Geld in der Tasche haben, dass ich volltanken und mir bei einer Eisdiele ein Eis und an einer Bratwurst Bude eine Bratwurst kaufen kann.

Ich habe selten in Gegenden gewohnt, in denen es öffentlichen Nahverkehr gab und wenn, dann war es immer kompliziert und unpraktisch.

So: Großer Schnitt und jetzt komme ich mal zum Thema:

Gestern habe ich mich mit jüngeren Leuten unterhalten und es ging darum, wo sie gern wohnen würden. 

Ein gewichtiges Argument war (so sinngemäß)

„Ich möchte nicht auf dem Dorf wohnen sondern in einer Stadt, in der es eine Metro gibt. Dann komme ich schnell von A nach B. Wenn eine Metro da ist, fühle ich mich sicher und frei und kann überall hinfahren.

Ich fand das völlig faszinierend, weil das auf den ersten Blick so etwa das Gegenteil dessen ist, was ich erlebt habe. Auf den zweiten Blick ist es vielleicht gar nicht so anders, geht es doch auch irgendwie um eine Art von Freiheit. 

Da fällt mir ein Text von Heinz Rudolf Kunze zu ein.

Ich geh meine eigenen Wege

Ein Ende ist nicht abzusehn

Eigene Wege sind schwer zu beschreiben

Sie entstehen ja erst beim Gehn

https://genius.com/Heinz-rudolf-kunze-meine-eigenen-wege-lyrics

Bisher habe ich öffentlichen Nahverkehr als etwas Unangenehmes empfunden. In Städten fühlte ich mich selten wohl. Jetzt muss ich mal nachdenken 🤔 


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